Reife
Auf schlanken Halmen wiegen
verträumt im warmen Wind
sich große, gelbe Ähren,
die schwer von Körnern sind.
Das Feld durchflattern Vögel
mit scheuem Flügelschlag.
Gold flimmert in den Lüften,
es naht der Erntetag…
Was schlief im kleinen Keime
erwachte und ward groß?
Wer weiß um das Geheimnis
im dunklen Erdenschoß?
Spürst Du die starken Hände,
die still durch Sturm und Nacht,
die schwachen Samenkörner
zur Fruchtbarkeit gebracht?
(Elisabeth Lehr)
Früher Herbst
In goldenen Blättern flüstert
ein stummer, sanfter Wind.
Und Früchte rascheln nieder,
die reif geworden sind.
Es spielen tausend Farben
in silberblauer Luft.
Und leise zieht darüber
ein herber, welker Duft.
Die Zeit droht einzuschlafen
in schwüler Mittagsruh`.
Doch wie ein Uhrenzeiger
eilt sie dem Abend zu.
Und scheint die Welt am schönsten,
verweile ich doch still,
weil sich die bunte Erde
zum Sterben neigen will.
Und ist die Pracht zu Ende,
und ist es erst vollbracht,
so schlafen Frühlingskeime
in weißer Winternacht.
(Elisabeth Lehr)
Letzte Worte
Geliebte,
wenn mein Geist geschieden,
so weint mir keine Träne nach,
denn
wo ich weile,
dort ist Frieden,
dort leuchtet mir ein neuer Tag!
Wo aller Erdengram entschwunden,
soll Euer Bild mir nicht vergeh´n.
Und Linderung für Eure Wunden,
für Euren Schmerz
will ich erfleh´n.
Weht nächtlich seine Seraphsflügel
der Friede über´s Weltenreich,
so denkt nicht mehr an meinen Hügel,
denn
von den Sternen grüß´ ich Euch!
(Annette von Droste-Hülshoff)
Nun der Tag mich müd´ gemacht,
soll mein sehnliches Verlangen,
freundlich die gestirnte Nacht,
wie ein müdes Kind empfangen.
Hände, lasst von allem Tun,
Stirn, vergiss du alles Denken,
alle meine Sinne nun
wollen sich im Schlummer senken.
Je länger du tot bist,
um so mehr bist du hier.
Je weiter du fort bist,
um so näher bei mir.
Du wirst mir notwendiger
als das tägliche Brot ist.
Du wirst lebendiger,
je länger du tot bist.
(Börries von Münchhausen)
Und die Seele unbewacht,
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht,
tief und tausendfach zu leben.
(Hermann Hesse)
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande
als flöge sie nach Haus…
(Joseph von Eichendorff)
Jeder Lauf, ob zur Sonne oder zur Nacht,
führt zum Tode, führt zu neuer Geburt,
deren Schmerzen die Seele scheut.
Aber alle gehen den Weg,
alle sterben, alle werden geboren,
denn die ewige Mutter gibt sie ewig dem Tag zurück.
(Hermann Hesse)
Beim Namen gerufen
Nicht ins Leere gefallen, sondern heimgegangen,
nicht vom Zufall ausgelöscht, sondern beim Namen gerufen,
nicht vom Dunkel verschlungen, sondern vom Licht umfangen -
das ist die Hoffnung für dich und für mich und für alles, was lebt.
(Ingrid Koller)
Psalm
Ich bin vergnügt,erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.
(Hanns Dieter Hüsch)
Heinrich Heine:
Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?
Werd´ ich wo in einer Wüste,
eingescharrt von fremder Hand?
Oder ruh´ ich an der Küste
eines Meeres in dem Sand?
Immerhin mich wird umgeben
Gottes Himmel, dort wie hier.
Und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir.